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MICHAEL STADLER AUS SYRGENSTEIN IN NEU-DELHI, INDIEN

Spuren hinterlassen

FOTO: TRYFONOV - STOCK.ADOBE.COM

Nun ist es schon drei Jahre her, dass ich für „Brücken in alle Welt“ aus China berichtete. In den Monaten vor der Pandemie arbeitete ich dort als Lektor an einer Universität in Sichuan (in Südwest-China) und reiste viel durch dieses große und spannende Land. Nach einem kurzen Abstecher von Hongkong nach Indien Anfang Januar 2020 wurde dann plötzlich mein Rückflug nach China gestrichen. Seitdem liegen meine Sachen noch dort, aber eine Einreise ist nach wie vor fast unmöglich. So hinterlässt man unfreiwillig seine Spuren.  

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Es folgte eine lange Verschnaufpause (wenn man das in Zeiten von Corona so sagen kann) bei meinen Eltern in Syrgenstein, zuerst mit Online-Unterricht nach China und dann einem Job an der Uni Tübingen. Die Idylle im Ländle wurde vollends perfekt, als meine französische Freundin und ich uns im Altenberger Rathaus vergangenen Sommer das Ja- bzw. Oui-Wort geben konnten, natürlich Corona-gerecht mit Live-Übertragung für unsere Freunde weltweit. Danke nochmal an Bürgermeisterin Mirjam Steiner, die uns unvergesslich zweisprachig getraut hat! Doch bald schon zog es uns wieder zurück 'in alle Welt' – und seit Januar sind wir nun in Indien.
  

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Wie hat sich das ergeben und warum gerade Indien? Obwohl ich anfangs etwas skeptisch war, gelang es meiner Frau nach zehn Jahren Überzeugungsarbeit relativ schnell, mich für die Einzigartigkeit dieses Landes zu begeistern. Hinzu kam eine Möglichkeit des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), mich an die Jawarhalal-Nehru-Universität (JNU) in Neu-Delhi zu vermitteln, wo ich inzwischen seit Anfang des Jahres als Lektor für Germanistik arbeite. Ich unterrichte also Themen wie Deutsche Geschichte, Literatur, Philosophie, Rhetorik und Sprache. Außerdem mache ich viel sogenannte ‚auswärtige Kultur- und Bildungspolitik‘, also zum Beispiel Veranstaltungen mit dem DAAD, dem Goethe-Institut, der deutschen Botschaft in Delhi sowie deutschen und indischen Partner-Unis. Für mich ist das ein Traumjob, da ich auf diese Weise unterschiedliche Seiten Indiens entdecken und überall Erfahrungen sammeln kann.
  

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Am meisten lerne ich ohne Zweifel von meinen Studierenden. Dank eines ausgetüftelten Quotensystems, sitzen bei mir im Unterricht indische Studierende vieler Regionen, Religionen, Kulturen, Sprachen, Kasten und sozialen Klassen. Zusammen sprechen wir im Klassenzimmer über Goethe, Merkel, Nietzsche oder Studentenbewegungen der 68er, während draußen auf dem grünen Campus – der eigentlich ein riesiger Dschungel ist – Pfauen schreien, Hunde bellen, Antilopen grasen, Papageien fliegen, Streifenhörnchen nagen, sich Skorpione und Schlangen und Warane und Chamäleons und Stachelschweine und wer weiß was noch im grünen Dickicht verstecken. Hundert Meter weiter versteckt ist auch meine Frau in einem roten Backsteingebäude, denn auch sie hat über ein österreichisches Stipendium eine Stelle an dieser Uni bekommen, was für uns beide natürlich ein Glücksfall ist.
  

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Der Campus ist ein Zuhause für Mensch und Tier und ein Spiegelbild der indischen Gesellschaft im Ganzen. Ich bin sehr gerne hier, der Rhythmus ist langsam, es gibt leckeres und günstiges Essen, würzigen Chai, frischgepresste Säfte, gute Luft, keinen Lärm, oft stundenlange Gespräche – während draußen die unvorstellbar große Stadt mit ihren rund 26 Millionen Einwohnern Tag und Nacht hupt und braust. Außerdem ist die JNU politisch sehr aktiv und es gibt laufend Proteste und Kundgebungen, die dann ganz groß in den indischen Medien besprochen werden. Jeder hier im Land kennt diese Uni und hat eine Meinung zu ihr, obwohl eigentlich nicht mal 10 000 Studenten eingeschrieben sind, was sehr wenig ist für indische Dimensionen.

Wenn es die Arbeit zulässt oder das Thermometer mal wieder Temperaturen von fast 50 Grad im Schatten anzeigt, verlassen wir Delhi und erkunden die vielen anderen Regionen Indiens. Genau wie in China, ist auch in Indien geografisch alles geboten. Dieses Jahr wanderten wir schon in Uttarakhand am Fuße des Himalayas, sahen den Totenverbrennungen in Varanasi an den Treppen zum Ganges zu, aßen den berühmten bengalischen Fisch mit Senfsoße in Kolkata, wurden von meiner Studentin durch die alten Moscheen von Lucknow geführt und bestaunten das Diwali-Feuerwerk auf den Dachterrassen der ‚blauen Stadt‘ Jodhpur in Rajasthan. Überall gibt es reich verzierte heilige Stätten, großartige Architektur, überbordende Mythologie, lange Geschichte, großartiges Essen und unvergleichliche Gastfreundschaft. Nächstes Jahr möchten wir als Hochzeitsreise gerne den Nordosten Indiens bereisen, also die Gegenden südlich von China: Assam, Sikkim, Manipur, Arunachal Pradesh. Auch Nepal rangiert ganz oben auf der Reiseliste.

Aber zuerst mal steht eine weitere große Reise an: Mitte Dezember für ein paar Wochen zurück nach Syrgenstein. In Indien ist Weihnachten zwar auch ein Feiertag (anders als bei uns sind die großen Feste mehrerer Weltreligionen hier offzielle Feiertage), aber richtige Weihnachtsstimmung kommt bei mir eigentlich nur daheim bei der Familie auf. Das geht übrigens auch meiner Frau so – und deswegen haben wir Weihnachten noch nie zusammen gefeiert. Im Januar geht es dann wieder in Delhi weiter, wohl noch für ein paar weitere Jährchen (hallo Oma!). Nachdem ich nun aber weiß, wie schnell so ein toller Auslandsaufenthalt wegen Pandemie oder auch Krieg vorbei sein kann, schätze ich die Zeit ‚in aller Welt‘ umso mehr. Vielleicht komme ich irgendwann ja auch wieder an meine verstaubten Sachen in China... aber das ist ein anderes Thema. Immer optimistisch bleiben. Frohe Weihnachten und ‚Namaste‘ an alle im Ländle!

Übrigens, wer mehr über Indien erfahren möchte, dem sei der tolle Podcast des NDR ‚Die Korrespondenten in Delhi‘ empfohlen. Jede wöchentliche Folge ist ein Highlight!
   

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